Einbildung & Spiegelung

Wenn Einbildung von Bildung käme
(Teil I)
Die große Gabe der Einbildung
Die menschliche Fähigkeit, sich Wunschbilder zu schaffen.
dann wäre die Welt ein Fest für Denker, ein Jahrmarkt der Klarheit, ein intellektuelles Disneyland mit Sitzpolstern aus Argumenten. Stattdessen aber: Abgrund. Trampolin der Selbsttäuschung. Der Mensch – dieses zwischen Wunsch und Wahn schlingernde Wesen – hat sich eine Disziplin perfektioniert wie keine zweite: das Einbilden. Besonders in Herzensdingen, wo Ratio längst kapituliert hat, regiert das Kopfkino.
Harvey lässt grüßen
Vom unsichtbaren Hasen zum Herzchen auf dem Display.
Wer erinnert sich noch an Mein Freund Harvey? James Stewart, dieser Typ, der selbst im Smoking wie der nette Typ von nebenan wirkte, unterhielt sich mit einem zwei Meter großen, unsichtbaren Hasen. Man lächelte damals. Heute sitzt man daneben. Mit Kopfhörern. Und einem „Herz“-Emoji auf dem Display.
Verliebt in eine Fantasie – made in Chat
Digitale Romanzen zwischen Sehnsucht und Illusion.
Der Mensch – das Tier, das denken kann, dass es denkt. Und das sich dabei regelmäßig selbst überlistet. Besonders in Herzensdingen. Die Einbildungskraft des Homo sapiens ist ein Biest mit blumigem Zuckerguss und rostigem Haken. Psychologisch betrachtet ein Überlebensmechanismus: Der Wunsch nach Verbundenheit, genährt aus der Oxytocin-Destille unserer limbischen Küche. Leider – oder gerade deshalb – ein Garant für Realitätsverzerrung erster Güte.
Wenn Gefühle aus Pixeln geboren werden
Nähe spüren, obwohl Kilometer dazwischenliegen.
Gefunden haben wir ihn im digitalen Nebel: Mitte 40, zwei Kinder, fünfzehn Jahre Ehe. Und jetzt – verliebt. In ein Chatprofil. Liebeskummer deluxe. Tränen, Schluckauf, Emotionsabsturz. Alles, was er je gefühlt habe, sei ein schaler Witz gegen das, was ihm da jetzt den Brustkorb zersprenge. Und das Beste: sein digitales Gegenüber liebe ihn zurück. Wie verrückt, sagt er. Und das mit einem Ernst, der Satelliten aus der Umlaufbahn schiebt.
Ein psychologischer Serienklassiker
Verliebt in eine Vorstellung
Was auf den ersten Blick nach einem tragischen Einzelfall klingt, ist ein psychologischer Serienklassiker. Menschen verlieben sich nicht zwingend in andere – sondern in die Bilder, die sie sich von anderen machen. Das Gehirn, der begnadete Trickser, projiziert. Es erstellt Wunschfassaden, plakatiert Hoffnungen und überklebt reale Ecken mit glänzender Illusion.
Spiegelung, verzerrt wie ein Jahrmarktsspiegel
Wie Projektion und Wunschdenken unser Bild verfälschen.
Es nennt sich Spiegelung – und ist so alt wie die Paarung selbst. Der Jagdtrieb liefert das Ziel, die Einbildung zimmert den Altar. Man nehme: Einen Mann mit einem Faible für Cameron-Diaz-Beine und Salma-Hayek-Schlangenbewegungen. Was ihm begegnet, ist eine 1,85 Meter große Frau mit wirrem Zottelhaar, fahlem Blick und der Präsenz eines übermüdeten Kampfstiers. Kein Problem. Er sieht sie an – und sieht, was er sehen will. Seine Einbildung legt einen Weichzeichner über die Wirklichkeit, schaltet den Kontrast runter, filtert die Störung. Von da an geht er mit der Frau zusammen, aber in Wirklichkeit mit seinem Hirnkino.
Realitätsferne Zwangsbindung
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Diese Form der kognitiven Verzerrung ist wissenschaftlich gut dokumentiert und wurde etwa in Studien von Aron et al. zur Liebesbesessenheit beschrieben. Sie hilft, Bindung aufrechtzuerhalten – selbst wenn die Realität schon längst abgewinkt hat. Doch wehe, das Skript bricht. Etwa, wenn der Protagonist plötzlich jemandem begegnet, der der eigenen Projektion gefährlich nahekommt – innerlich wie äußerlich. Dann verzieht sich der Nebel. Und zurück bleibt ein Gesicht, das man nie wirklich gesehen hat. Man erschrickt. Nicht selten. Nicht nur.
Und plötzlich ist die Wand leer
Der Moment, wenn Projektionen zerbrechen und ernüchtern.
Schlimmer wird’s, wenn die Einbildung auf jemanden trifft, der wirklich echt ist. Kein Bild, kein Platzhalter, keine Projektionsfläche. Sondern ein Mensch mit Geschichte, Tiefe, Würde. Wenn dieser Mensch irgendwann merkt, dass er nie gemeint war – sondern nur als Folie für ein mentales Ideal diente – bleibt oft nicht viel mehr als ein Hohlraum in Herzform.